Als „charmantes Raubein mit zarter Seele“ wird der Picard zumeist charakterisiert. Und in der Tat: Bevor man sich einen Picard als Gefährten anschafft, tut man gut daran, sich eingehend zu informieren, auf was man sich einlässt und abzuwägen, ob diese Rasse wirklich zu einem passt, denn Picards haben besondere Wesenszüge, die sie nicht für jedermann geeignet erscheinen lassen. Zuerst und vor allem sind sie - wie eigentlich alle französischen Hütehundrassen sehr selbständige und energische Hunde, die dazu neigen, Eigeninitiative zu ergreifen. Diese gewisse Eigenwilligkeit wird ihnen oftmals als Dickköpfigkeit oder Sturheit ausgelegt. Sie ist aber eine typische Eigenschaft aller Arbeitshunde, besonders derjenigen, die von Herdenhunden (Sammelbe-zeichnung für Hüte-, Treib- und Hirtenhunde) abstammen, die jahrhundertelang beim Hüten, Treiben und Bewachen der ihnen anvertrauten Herden in vielen Situationen selbständig - ohne den Befehl ihres Herrn abzuwarten - agieren mussten.
Was man wissen sollte, bevor man einen solchen Hund erwirbt, ist, dass dieser selbständige Zug eine gute Portion Konsequenz, Geduld, Beharrlichkeit und Einfühlungsvermögen von Seiten des Besitzers erfordert. Diese Eigenschaften sind v.a. während der Zeit des Heranwachsens (1. + 2. Lebensjahr) des Hundes erforderlich, wenn es gilt, den Junghund zu einem angenehmen, willfährigen und folgsamen Hausgenossen und Begleiter zu formen. Seine Erziehung sollte mit Disziplin und Konsequenz, gepaart mit Freundlichkeit und Toleranz, aber keineswegs mit Gewalt und Schroffheit, erfolgen. Der Picard gehört zu den Hunden, die bei aller körperlichen Härte doch auch ein gehöriges Maß an wesensmäßiger Sensibilität aufweisen und sehr gut auf eine einfühlsame und verständnisvolle Führung ansprechen.
Menschen, die einen Hund nicht mit straffer und konsequenter Hand zu führen vermögen, sollten vom Picard besser die Finger lassen, denn dieser intelligente Hund neigt dazu, bei zu nachgiebiger Behandlung selbst das Ruder zu ergreifen. Auch Menschen, die einen Hund in relativ kurzer Zeit nach Schema F erziehen wollen, sind mit einem Picard nicht gut bedient und sollten sich Sinnvollerweise lieber einer anderen, leichter abzurichtenden, Rasse zuwenden. Als „Befehlsempfänger", „Sklave" oder „Roboter", der fünfmal hintereinander die gleiche Übung ausführt, ist diese Hunderasse gänzlich ungeeignet. Aber mit Geduld, Phantasie und einem Schuss Humor, gepaart mit dem nötigen Einfühlungsvermögen, kann man auch einen Picard unter Kontrolle bringen, und wer das richtige „Feeling" für diese Sorte Hund besitzt, kann Höchstleistungen aus ihm herausholen. Als idealer Anfängerhund ist er, so gesehen, sicher nicht zu bezeichnen. Ein zweiter typischer Wesenzug des Picards ist seine generelle Zurückhaltung und Reserviertheit gegenüber Fremden, auch gegenüber fremden Situationen. Diese äußert sich in allgemeiner Vorsicht, in einer Art von Misstrauen gegenüber unbekannten Personen oder Gegebenheiten, welche man nicht mit Angst verwechseln sollte, sondern die eher als eine Art gesundes Misstrauen zu deuten sind. Auch dieser Wesenszug ist uraltes Herden- und Hofhunderbe und aus seiner ursprünglichen Verwendung her erklärbar. Schon der große Fürsprecher des Picard, Jean Cotté, schrieb Mitte dieses Jahrhunderts, man müsse den Menschenschlag seiner Heimat kennen, um den Picard zu verstehen: Hart gegen sich, rau und abweisend gegen alles Neue und Fremde, von sturer Beharrlichkeit und einer gewissen Langsamkeit im Denken geprägt - das seien charakteristische Eigenschaften der Menschen in den Ebenen Flanderns und der Picardie und diese Eigenschaften würden auch ihre Hunde kennzeichnen, die in dieser Landschaft entstanden sind.
Ein typischer Picard vertraut einzig und allein seinem Herrn, seiner Familie und Freunden des Hauses, die er von klein auf kennt bzw. die regelmäßig ein- und
ausgehen.
Das bedeutet nicht, dass der Picard Fremden gegenüber generell aggressiv ist, sondern meistens verhält er sich lediglich ablehnend bis neutral. Wenn jedoch eine fremde Person zu aufdringlich wird oder abrupt auf den Picard bzw. seinen Herrn zugeht, kann es passieren, dass er vom Picard dumpf angeknurrt wird. Der Picard schaut dabei dem Fremden scharf in die Augen ohne in irgendeiner Weise ängstlich oder unsicher zu sein. Wegen seiner Unbestechlichkeit ist er auch ein vorzüglicher Wachhund ohne im engeren Sinne scharf oder bissig zu sein. In wirklich bedrohlichen Situationen weiß er aber recht wohl seine Zähne einzusetzen und bewährt sich als zuverlässiger, unerschrockener Schutzhund.
Auf Grund dieses angeborenen
misstrauischen Wesenszuges gegenüber fremden Personen, Dingen und Situationen - die im übrigen ebenfalls allen französischen Hütehunden eigen ist - muss man beim Picard ganz besonders darauf
achten, dass man den Junghund während der Prägungsphase an alle möglichen Situationen gewöhnt.
Den größten Fehler, den man machen kann, ist es, den jungen Picard zuviel in Schutz zu nehmen. Viel besser ist es, ihm auf ruhige und gelassene Art gut zuzureden und dadurch Selbstsicherheit zu
vermitteln. Niemals sollte man ihn in solchen Situationen auf den Arm nehmen oder streicheln, denn auf diese Weise belohnt und verstärkt man nur sein unsicheres oder ängstliches Verhalten.
Wichtig ist es, den Hund während seiner Jugendzeit soviel wie möglich überall hin mitzunehmen und ihn möglichst vielen fremden, wenngleich vielleicht zunächst etwas furchteinflößenden, Situationen auszusetzen. Zu beachten ist dabei, dass der Hund letztlich immer gute Erfahrungen macht, dass ihm nichts Schlechtes dabei widerfährt. Ein auf diese Weise aufgezogener und geprägter Picard wird später kaum je Probleme bereiten.
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